Beim Gottesdienst zum Jahresausklang in der Stadtpfarrkirche spricht Dekan Jochen Wilde im Wechsel mit der Gemeinde Psalm 121.
Mit festlicher Bläser- und Orgelmusik und dem Bonhoefferlied verabschiedeten die Evangelischen am Silvesterabend in der Passauer Stadtpfarrkirche das Jahr 2024. Dekan Jochen Wilde predigte über das Matthäuswort „Lasst beides miteinander wachsen“ und rief dazu auf ein Netzwerk für das Gute zu bilden. Kirchenmusikdirektor Ralf Albert Franz an der Orgel und Oliver Sailer an der Trompete gestalten den Gottesdienst zum Jahresausklang musikalisch.
Am 9. April 2025 jährt sich zum 80. Mal der Todestag des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Er wurde in den letzten Kriegstagen im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Zuvor war er zusammen mit anderen des Widerstands gegen Hitler in Schönberg im Bayerischen Wald inhaftiert. Im Dekanat Passau wird seiner in den kommenden Monaten mit zahlreichen Veranstaltungen gedacht. Er ist der Inbegriff des guten Menschen, aber auch des Widerstands gegen rechtsradikale Ideologie. Sein Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ wurde von Siegfried Fietz vertont und ist weltberühmt. Es wurde im Jahresabschlussgottesdienst in der Stadtpfarrkirche gesungen und Bonhoeffers Glaubensbekenntnis von 1943 gesprochen. Es ist ein Bekenntnis für das Gute, den Widerstand und gegen die Angst. Es passt zu unseren Tagen und ist im Hinblick auf die Bundestagswahl geradezu programmatisch.
Ob alle Parteien der populistischen Versuchung widerstehen werden im Wahlkampf, aus der Flüchtlingsfrage politisches Kapital zu schlagen und einfache Lösungen vorzugaukeln, fragte sich Dekan Jochen Wilde in seiner Predigt. Er rief dazu auf die Fluchtursachen wie Krieg und Gewalt, Hunger, Armut und Klimawandel zu bekämpfen und nicht die Flüchtlinge durch die Abschaffung humanitärer Grundwerte.
In seinem Rückblick erinnerte Wilde auch an die Schocks des Jahres 2024: Deportationspläne „Remigration“ der AfD, Tod des Putin-Kritikers Alexej Nawalny, Gewalt in Gaza und im Libanon, Trump-Wahl, Ampel-Aus, Amokfahrt in Magdeburg, Flugzeugabstürze der letzten Tage. Aber es zeige sich, „wie die Sehnsucht immer stärker wird nach mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft, wie sich Widerspruch und Widerstand erhebt gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Hass und Hetze.“ Die Gesellschaft sei viel weniger gespalten, als uns die lauten polarisierenden und die Mitte übertönenden Ränder glauben machen wollten.
Trotz sinkender Mitgliederzahlen sei die Kirche eine wichtige Ressource für unsere Zivilgesellschaft. Sie fördere Vertrauen, positive Lebenseinstellungen und ehrenamtliches Engagement. „Vielleicht ist das sogar eine der vornehmsten Aufgaben der Kirche überhaupt: dem Auseinanderdriften oder gar Auseinanderbrechen der Gesellschaft entgegenzuwirken!“ In einer Welt der einfachen Parolen sei es wichtig unterschiedliche Meinungen auszuhalten, ohne den anderen gleich zum Feind zu erklären und das Widersprüchliche zusammenzuhalten. Er plädierte dafür, sich als Einzelner oder als Kirche mit anderen Gruppierungen, Initiativen und Menschen guten Willens zusammenzutun und „Netzwerke für das Gute“ wachsen zu lassen.
Abschließend dankte Dekan Jochen Wilde den Gottesdienstbesuchern für ihre Verbundenheit und wünschte allen Menschen ein gesundes neues Jahr und Gottes Segen.
Text und Foto: Hubert Mauch
Hier die Predigt von Dekan Wilde zum Nachlesen:
(Das Foto "The Two Walls" von Alejandro Cegarra, auf das sich Dekan Wilde in seiner Predigt bezieht, kann aus urheberrechtlichen Gründen hier nicht dargestellt werden. Es zeigt einen amerikanischen Güterzug. Ein Mann mit Gepäck auf dem Rücken springt von einem Waggondach auf das nächste.)
31.12.2024 (Silvester) – SPK Passau
Matth. 13, 24–30: Lasst beides miteinander wachsen
Liebe Gemeinde,
1) mit festem Schritt setzt er hinüber, während der Güterzug unter seinen Füßen unvermindert dahin donnert. Alles, was er besitzt, hat er sich auf den Rücken geschnallt.
Ein Foto, wie bestellt für den Jahreswechsel, da auch wir hinübergehen – von 2024 in 2025, während die Zeit davonzurasen scheint.
„Wir gehn dahin und wandern / von einem Jahr zum andern“ – so haben wir eben gesungen.
Aber aus dem „Wandern“ ist längst ein Hasten, ein Wettlauf mit der Zeit geworden!
Es scheint, als würde die Zeit immer rasanter und rasender davoneilen – und wir, wir kommen kaum mehr mit, können kaum mehr Schritt halten…
Ich glaube: das ist nicht nur dem fortschreitenden Lebensalter geschuldet – sondern hat nicht zuletzt auch mit unserem Lebensgefühl zu tun: Wir lassen uns oft viel zu sehr treiben, kommen uns bisweilen wie Getriebene vor!
Umso wichtiger, dass wir uns immer wieder eine Auszeit gönnen, eine heilsame Unterbrechung – so wie jetzt! Dass wir uns hier zu einer gemeinsamen Stunde einfinden, in der wir nichts erreichen müssen – außer uns selbst.
Kostbare Zeit – weil wir dankbar auf glückliche Momente zurückschauen können!
Aber auch das macht diese Stunde kostbar, dass man würdigt, was einen traurig macht und was man persönlich an Verlorenem zu beklagen und zu betrauern hat…
2) Zugleich nimmt uns das Foto auf der Titelseite mit hinein in das aktuelle weltpolitische Geschehen:
Alejandro Cegarra, ein Fotograf aus Venezuela, hat es aufgenommen. Er hat beim Wettbewerb „Welt-Presse-Foto“ dieses Jahres den Preis für „Langzeitprojekte“ erhalten.
Seit 2019 macht er an der Mexikanisch/US-Amerikanischen Grenze auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam. Die Aufschrift des Güterwaggons „BNSF“ weist auf das Ziel der Flucht hin: die Vereinigten Staaten.
Es ist eine lebensgefährliche Flucht – Hunderte stürzen vom Zug ab, werden verwundet oder kommen um. Die anderen müssen jederzeit auf der Hut sein vor Mexikanischen Gangs – oder vor US-Amerikanischen Grenzsoldaten.
Und zugleich – zugleich lebt die amerikanische Wirtschaft von den Hunderttausenden Flüchtlingen und braucht sie als billige Arbeitskräfte für den eigenen Wohlstand.
So einfach, wie ein Donald Trump dies großmundig angekündigt hat, ist die Flüchtlingsfrage eben nicht zu lösen – und schon gar nicht mit Waffengewalt oder meterhohen Zäunen…
Auch bei uns wird die Flüchtlingsfrage eines der zentralen Themen im bevorstehenden BT-Wahlkampf sein: Ob alle Parteien der populistischen Versuchung widerstehen werden, daraus politisches Kapital zu schlagen und einfache Lösungen und Antworten zu suggerieren?!
Derzeit befinden sich nach Angaben des UNHCR weltweit 123 Mio. Menschen auf der Flucht (so viele wie die Bevölkerung Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der Niederlande zusammen) – davon allein 47 Mio. Kinder!
Sie fliehen vor Krieg und Gewalt, vor Hunger und Armut, und nicht zuletzt vor den Folgen des Klimawandels! Es wird ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes – die Lebensgrundlage entzogen!
Solange wir gegen diese Fluchtursachen nichts tun, wird sich daran wenig ändern – auch nicht durch restriktive Maßnahmen oder ein weiteres Abschmelzen des Asylrechts!
Ganz im Gegenteil – wir müssen aufpassen, dass es durch solche Maßnahmen nicht gar zu einer Kernschmelze unserer humanitären Grundwerte kommt…!
3) Aber schauen wir zurück auf die vergangenen 366 Tage. Viel ist passiert in diesem zu Ende gehenden Jahr – einiges davon haben wir schon längst wieder vergessen oder verdrängt.
Ein „Jahr der Schocks“ schrieb der Spiegel in seinem Jahresrückblick – ja, wir waren schockiert:
Über die „Remigrationspläne“ der AfD, den Tod des Putin-Kritikers Alexej Nawalny;
die Eskalation der Gewalt in Gaza und im Libanon,
den Wahlerfolg Donald Trumps in den USA,
das Scheitern der Ampel-Regierung –
und zuletzt, kurz vor Weihnachten, die Amokfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt –
und schließlich den Abschuss eines Passagierflugzeugs durch die Russische Luftabwehr und den Flugzeugabsturz in Südkorea…
Die schockierenden Ereignisse und Schreckensbilder gönnen uns auch zum Jahreswechsel keine Atempause!
Und auch wenn sich unsere Betroffenheit und unser Mitgefühl für die Opfer und Angehörigen schon nach wenigen Tagen wieder erschöpft hat – so ist zugleich zu spüren und festzustellen, wie die Sehnsucht immer stärker wird nach mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft – wie sich Widerspruch und Widerstand erhebt gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Hass und Hetze. Wie im Frühjahr, als Hunderttausende für Demokratie und eine weltoffene Gesellschaft auf die Straße gegangen sind!
Der Soziologe Steffen Mau weist in einer viel zitierten Studie darauf hin, dass die Gesellschaft in den grundlegenden Fragen viel weniger gespalten sei, als immer wieder beschworen wird.
Nur seien die polarisierten Ränder eben so laut, so dass sie diese Mitte übertönen!
4) Und mit hineingewoben in die großen politischen Ereignisse und die gesamtgesellschaftliche Gemengelage:
meine eigene kleine Lebensgeschichte, das private und familiäre Geschick und Geschehen…
Was war – und was wird bleiben?! Woran denken Sie heute Abend?
Was bleibt von all den Plänen, von guten Erfahrungen, glücklichen Momenten?!
Trauer, Schmerz! Wovon und von Wem galt es Abschied zu nehmen, loszulassen…?!
Die Gefühle sind widersprüchlich am heutigen Abend – und manchmal vermag man vielleicht gar nicht so genau zuzuordnen: ob etwas gut oder schlecht gewesen ist – ob der eingeschlagene Weg der richtige war oder sich am Ende als Irrweg erweisen wird!
Da hat sich vielleicht manches positiv und verheißungsvoll angelassen, hat sich gut entwickelt – und dann ist buchstäblich etwas dazwischengekommen und hat es zunichte gemacht oder verhindert!
Es ist wie bei dem Bauern und seinem Feld, wie wir im Gleichnis gehört haben.
Es gibt in allem immer auch das Unberechenbare, das Unfassbare, das wir selbst bei allerbester Planung und Sorgfalt nicht zu fassen bekommen!
Es gibt das Dunkle, das Rätselhafte, das all unser Tun und Handeln begleitet.
Von Schuldhaftem und Versäumtem ganz abgesehen…!
5) Nehmen wir als Beispiel etwa auch unsere kirchliche Entwicklung und den Werdegang unseres Diakonischen Werks…
Allgemein bekannt ist der Rückgang an Kirchenmitgliedern – in 2023 hat die ELKB rund 58.000 Mitglieder verloren, und dieser Trend hält leider Gottes an, auch wenn er sich zuletzt etwas abgeschwächt hat.
In unserem Dekanat haben wir in den ersten 10 Monaten dieses Jahres rund 640 Mitglieder verloren – in unserer KG St. Matthäus waren es 168.
Entwicklungen und Zahlen, die weh tun, die schmerzlich sind – und an der einen oder anderen Stelle sicherlich auch Anlass geben zur (Selbst-)Kritik.
Zugleich aber spielen gesamtgesellschaftliche Trends und Faktoren eine entscheidende Rolle, die wir nicht oder kaum beeinflussen können: Ich nenne die Stichworte Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Relativismus…
Der renommierte Soziologe Detlef Pollack hat bei seiner Kanzelrede am 04.02.24 darauf hingewiesen – und uns zugleich aber ermutigt: „Kirche kann dennoch und weiterhin etwas tun“ – so sagte er: „Kirchliche Gemeinschaft tut gut, verändert die Menschen, gibt ihnen Trost und Hoffnung, ermutigt sie, stärkt sie – und hält den Horizont offen“.
Kirche sei zwar nicht mehr notwendig, aber brauchbar:
sie befördere Vertrauen, positive Lebenseinstellung und ehrenamtliches Engagement – und sei daher eine wichtige Ressource für unsere Zivilgesellschaft!
Mit den Worten unseres Gleichnisses:
Macht euch weiter an die Arbeit, sät den guten Samen aus, die frohe Botschaft – und wenn sich Misserfolg und Enttäuschung dazwischen mischen – lasst beides zugleich miteinander aufwachsen!
Denn anders können wir es nicht haben!
Oder nehmen wir als anderes Beispiel unser DW:
Da mussten wir im April Insolvenz anmelden – obwohl in den verschiedenen Bereichen (Beratungsangebote, Betreutes Wohnen, SPDi, ambulante Pflege u.a.) von jedem/jeder Einzelnen hervorragende Arbeit geleistet worden ist und wird!
Und trotzdem ist das DW in wirtschaftliche Schieflage geraten. An den Mitarbeitenden jedenfalls lag es am allerwenigsten!
Gott sei Dank haben wir durch die Kooperation mit dem DW Traunstein eine zukunftsfähige Lösung gefunden – auch wenn dies – zugleich! - mit der schmerzlichen Aufgabe einiger Arbeitsbereiche verbunden ist!
Auch an dieser Stelle dieses „Zugleich“ – dieses Zugleich widersprüchlicher Empfindungen und Erfahrungen!
6) Dieses „Zugleich“ könnte sogar ein Denkmodell für unsere Gesellschaft sein!
Denn es hilft uns, in unserer Welt, die dermaßen von Spaltung bedroht ist, das Widersprüchliche, das Gegensätzliche zusammen zu denken und zusammen zu halten! Vielleicht ist das sogar eine der vornehmsten Aufgaben der Kirche überhaupt: dem Auseinanderdriften oder gar Auseinanderbrechen der Gesellschaft entgegenzuwirken!
Deutlich zu machen, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann – und das auch aushalten kann, ohne den anderen gleich niederzumachen oder zum Feind zu erklären. In einer Welt der einfachen Parolen ist das wohl wichtiger denn je!
Die Welt lässt sich nicht einfach in Schwarz/Weiß oder richtig/falsch oder gut/böse aufteilen. Meist erkennt man dies erst im Nachhinein – eben zur Zeit der Ernte (im Bild des Gleichnisses). [Bsp. Syrien!]
Und für uns Menschen gilt das ebenso: „Simul iustus et peccator“ – der Mensch ist zugleich Gerechter und Sünder – so beschrieb Martin Luther das Wesen des Menschen.
„Simul – zugleich“ – dieses kleine Wort hat es in sich!
Und auch wenn dies sehr altertümlich klingt – da steckt große Menschenkenntnis dahinter und auch viel Verständnis, gerade für uns Menschen des 21. Jahrhunderts:
Auch wenn du dich manchmal weit entfernt fühlst von dir selbst – dich selbst nicht wiedererkennst;
auch wenn du deinen eigenen inneren Ansprüchen oft nicht zu genügen scheinst – du bist begnadet – du bist Wer! Und das kann und darf dir niemand absprechen!
Das kann dich befreien von diesem unseligen Selbstoptimierungswahn unserer Zeit – freimachen von allen gesellschaftlichen Zwängen, die einem vorschreiben wollen, was man zu tun und wie man zu sein hat!
7) Am Abend dieses letzten Tages des Jahres – und im Blick auf das bevorstehende neue Jahr ermutigt mich Jesu Gleichnis und stimmt mich zuversichtlich!
Einmal: Weil es mich die Haltung des Los-Lassens lehrt!
Ja, wir dürfen lernen loszulassen – in der Gesellschaft insgesamt – und auch in unserer Kirche!
„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“, heißt es im 126. Psalm (V. 5).
Das „Säen“ ist mit Tränen verbunden – ich habe gelesen, dass es im Vorderen Orient Brauch war, bei der Aussaat zu weinen.
Denn mit dem letzten Saatgut hat man alles riskiert, ohne zu wissen, ob es aufgehen würde in der Erde, der man die Saat anvertraut hat.
Auch das Loslassen in unserer Kirche wird mit Schmerzen, vielleicht sogar mit Tränen verbunden sein:
„Wir werden uns nicht nur von Sinn-losem, sondern auch von Sinn-vollem verabschieden müssen“ – sagt unser Landesbischof Christian Kopp mit Blick auf das „Entscheidungsjahr 2025“.
Aber wir vertrauen auf die Verheißung unseres Glaubens: dass das Weizenkorn aufgehen und Frucht bringen wird!
Und ein Zweites lehrt mich dieses Gleichnis:
Der Pflege des Ackerbodens, der Stärkung der Wurzeln hat unsere Anstrengung zu dienen – und nicht in erster Linie der Bekämpfung des Unkrauts.
So wie die Wurzeln im Ackerboden sich miteinander verbinden und ein starkes Wurzelgeflecht bilden – so können auch wir uns – als Einzelne oder als Kirche – zusammentun mit anderen Gruppierungen, Initiativen und Menschen guten Willens und Netzwerke bilden, Netzwerke für das Gute, um so ein Wurzelwerk für das Gute wachsen zu lassen!
Und ich bin überzeugt:
Die Rückbesinnung auf unsere Wurzeln, auf unsere Glaubenswurzeln gibt uns Halt!
Gibt uns Kraft, in einer unübersichtlichen Welt gut zu bestehen – auch im kommenden Jahr!
Amen.